Neue Politische Ökonomie

Neue Politische Ökonomie
von Diplom-Volkswirt Enrico Schöbel
I. Entstehung
Im Jahre 1958 veröffentlichte Black „The Theory of Committees and Elections“ über die Mathematik des Wahlprozesses. Dieses Buch ermunterte in den 60er und 70er Jahren mehrere US-amerikanische Ökonomen, sich intensiv mit der staatlichen Willensbildung in demokratisch verfassten Gesellschaften zu beschäftigen, die damit eine große Anzahl von theoretischen, empirischen und experimentellen Arbeiten auslösten. Als Begründer dieses Zweiges der Ökonomie gelten Buchanan und Tullock (The Calculus of Consent, 1962), Downs (An Economic Analysis of Democracy, 1957; Inside Bureaucracy, 1967) und Niskanen (Bureaucracy and Representative Government, 1971).
II. Gegenstand und Einordnung
Die Neue Politische Ökonomie (NPÖ) stellt eine Ausweitung der ökonomischen Analyse auf den Bereich der Politik dar. Den Gegenstand der Untersuchung bilden die Entscheidungen politischer Akteure. In demokratisch verfassten Gesellschaften sind politische Entscheidungen zumeist Kollektiventscheidungen, beispielsweise von Regierungen oder Parteien. Es bedarf also bestimmter Mechanismen zur Koordination individueller Entscheidungen. Hierzu dienen politische  Institutionen, d.h. politische Normen und Regeln, die das Handeln der Akteure untereinander bestimmen und damit einen Ordnungsrahmen bilden. Solche Institutionen sind nicht starr, sondern unterliegen selbst der Veränderung durch die Akteure. Die NPÖ untersucht sowohl die Effizienz von politischen Institutionen als auch deren Wandel. Somit bildet die NPÖ einen Bestandteil der  Neuen Institutionenökonomik und hat einen engen Bezug zur  Konstitutionenökonomik und zur Public-Choice-Theorie. NPÖ, ökonomische Theorie der Politik und Public-Choice-Theorie werden oft als synonyme Begriffe gesehen. Es gibt jedoch auch Ökonomen, die lediglich das Bestehen von Gemeinsamkeiten zwischen Public Choice und NPÖ betonen, und andere, die Public Choice als Oberbegriff für Theorien zur Erklärung öffentlicher Entscheidungen sehen und damit die verfassungstheoretischen Ansätze einschließen. Dagegen wird die NPÖ von der  Wohlfahrtsökonomik, die ein staatliches Eingreifen in Fällen von Marktversagen oder Marktunvollkommenheiten rechtfertigt, deutlich abgegrenzt.
III. Grundsätzliche Annahmen
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Handeln politischer Akteure, v.a. Wähler, Politiker, Bürokraten und Interessengruppen. Diese Akteure sind annahmegemäß durch rationales Entscheidungsverhalten gekennzeichnet und agieren wie Privatpersonen. Es wird angenommen, dass die politischen Entscheidungsträger nicht am Wohlergehen der Gemeinschaft interessiert sind, sondern eigene, persönliche Interessen verfolgen. Somit können die Politiker als Unternehmer und die Wähler als Konsumenten beschrieben werden. Die öffentlichen Güter werden von Bürokraten bereitgestellt. Das Zusammenwirken von Interessengruppen, Bürokraten und Politikern wird als „Eisernes Dreieck“ bezeichnet. Während positive Theorien empirisch belegbar erklären, wie sich die politischen Handlungsträger tatsächlich verhalten, versuchen normative Ansätze, diese Erkenntnisse bewusst zu nutzen, um aufzuzeigen, wie bestimmte Institutionen sein sollen, damit gewisse normative Ziele erreicht werden. Hier besteht ein enger Zusammenhang zur Konstitutionenökonomik, die auch als normative Public-Choice-Theorie bezeichnet wird. Die NPÖ steht der normativen Theorie als positive Public-Choice-Theorie gegenüber.
IV. Verhalten der politischen Akteure
Die Wähler gelten als Konsumenten der Politik. Sie sind über die gesamte Breite von Tatsachen und Zusammenhängen des politischen Geschehens schlecht informiert. Allgemeine Ideologien stehen anstelle von Wissen. Zudem werden die Wähler von Interessengruppen in ihrer Meinungsbildung beeinflusst.
In einer direkten Demokratie stimmen die Wahlberechtigten unmittelbar gemäß den geltenden Abstimmungsregeln über einzelne Sachverhalte ab. Welche Abstimmungsverfahren zur Bildung einer kollektiven Präferenzrangfolge vorzugsweise geeignet sind, erklären die normativen Ansätze der Public-Choice-Theorie. In einer indirekten Demokratie dagegen konkurrieren Parteien und deren Repräsentanten, die Politiker, um die Machtausübung. Die Politiker streben danach, von der Mehrheit der Wähler gewählt zu werden. Um dies zu erreichen, orientieren sie sich gemäß dem Medianwähler-Konzept an dem Wähler, der genau in der Mitte steht. Dieses Konzept basiert auf den Annahmen, dass die Wähler über eingipfelige Präferenzen verfügen, lediglich eine eindimensionale Präferenzrangfolge besteht und im Parteiwettbewerb nur zwei Parteien (oder Politiker) zur Wahl stehen. Wenn eine Partei die Wähler links der Mitte und die andere Partei die Wähler rechts der Mitte vertritt, dann hängt es von der Entscheidung des Medianwählers ab, welche Partei die Wahl gewinnt. Deshalb werden nach Downs (1957) beide Parteien darum kämpfen, diesen Wähler für sich zu gewinnen.
Die Behörden gelten als Ausführungsorgane des Staates. Die in der öffentlichen Verwaltung tätigen Bürokraten sind im Gegensatz zu Parteien und Politikern dem Wettbewerb entzogen. Gemäß dem Bürokratiemodell von Niskanen (1971) sind Bürokraten ausschließlich an der Maximierung ihres diskretionären Budgets interessiert, weil mit dessen Umfang zugleich Einkommenshöhe, Aufstiegschancen sowie persönliche Macht verbunden sind.
Interessengruppen oder Lobbies stehen ebenfalls außerhalb des Wahlprozesses. Obwohl sie demokratisch nicht legitimiert sind, versuchen sie auf die Politiker und Parteien Einfluss zu nehmen, um dadurch ökonomische Renten zu erlangen ( Rent Seeking). Die homogene Interessenlage in einer überschaubar kleinen Gruppe ermöglicht es, gut organisiert zu sein, und damit nach außen hin sehr wirksam aufzutreten. Die hierdurch gewonnene Beachtung führt dazu, dass solche Gruppen ihre Einzelinteressen relativ gut durchsetzen können. Die einmal gewonnenen Renten werden energisch verteidigt.
Aus diesen Grundansätzen zum Verhalten politischer Entscheidungsträger wurden zahlreiche weitere Modelle abgeleitet. Nordhaus (1975) beispielsweise modelliert den politischen Konjunkturzyklus unter Annahme eines Zusammenhangs zwischen Inflationsrate und Unterbeschäftigung.
Die NPÖ hat sich zu einer eigenständigen Forschungsrichtung innerhalb der Ökonomik entwickelt. Die Erkenntnisse der NPÖ fanden große Beachtung.
Literatur: Behrends, S., Neue politische Ökonomie: systematische Darstellung und kritische Beurteilung ihrer Entwicklungslinien, München 2001; Kirsch, G., Neue Politische Ökonomie, 4. Aufl., Düsseldorf 1997; Mueller, D.C., Public Choice III, 3. Aufl., Cambridge u.a. 2003; Schenk, K.-E. u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für neue politische Ökonomie, Tübingen, jährliche Erscheinung seit 1982; Shughart, W.F./ Razzolini L., The Elgar Companion to Public Choice, Cheltenham u.a. 2003; Tullock, G., Public Choice, in: Eatwell, J. u.a., The New Palgrave, Band 3, K to P, London u.a. 1991, S. 1040–1044.

Lexikon der Economics. 2013.

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